Wein ist kein Naturprodukt!
Was soll diese provokante Überschrift?
Natürlich wird jeder mehr oder weniger Fachkundige im ersten Moment laut aufschreien, ob dieser geradezu ketzerischen Aussage. Aber langsam. Stellen wir doch erstmal die Frage, was macht ein Produkt zu einem „Naturprodukt“?
Bedeutet dies, dass nur ein völlig naturbelassenes Erzeugnis als Naturprodukt bezeichnet werden darf? Also etwas, das ohne Beeinflussung durch den Menschen irgendwo so gewachsen ist, wie es letztlich verzehrt wird? Dann ist Wein sicherlich kein Naturprodukt!
Ruft man sich den Entstehungsprozess eines Weines mal ein bisschen in Erinnerung, dann fällt einem doch so einiges auf.
Die Fläche, auf der ein Weinstock wächst wurde mit Sicherheit durch den Menschen erst geschaffen. Seien es die Terrassen an der Mosel, seien es die Parzellen des Burgund oder seien es die Weinberge in Bordeaux – all diese Örtlichkeiten wurden durch den Menschen angelegt und werden durch den Menschen in ihrer Form erhalten. Dennoch sind diese Lagen eines der wichtigsten Kriterien zur Herstellung eines guten Weines. Natürlich ist dies nicht, sondern es war ein aktives Eingreifen des Menschen in die Umwelt nötig, um beispielsweise aus einem Sumpfgebiet im Südwesten Frankreichs eines der berühmtesten Weinanbaugebiete der Welt zu schaffen.
Ähnlich ist es bei den Weinstöcken, den Reben selbst.
Vielleicht kann man es ja noch hindiskutieren, dass die Mutter aller Riesling- oder Chardonnay, oder Spätburgunderreben einmal als wilde Mutation (und somit etwas natürliches) entstanden ist. Nicht wegdiskutieren kann man jedoch, dass alle zur Weinbereitung geeigneten Sorten seitdem einer peniblen Zucht, Kreuzung und Selektion unterworfen wurden. Dies alles mit dem Ziel, Reben zu gewinnen, die sich zur Weinbereitung eben optimal eignen.
Gar nicht zu reden von den Änderungen, die sich nach der Reblauskatastrophe ergeben haben: europäische Reben haben sich nicht selbst auf amerikanische Unterlagsreben gepropft um der Reblaus besser zu widerstehen. Nein, auch das war ein aktives Eingreifen des Menschen in den natürlichen Prozess!
Heute gibt es von jeder bedeutenden Rebsorte eine Vielzahl verschiedener Klone: Da ist die eine Varietät besonders für schwere Lehmböden geeignet, die nächste trägt besonders viel, eine dritte ist gegen irgendeinen Schädling resistent und so weiter.
Auch der Produktionsprozess ist nichts natürliches. „Natürlich“ wäre es, wenn die Trauben gelesen, ausgequetscht und der Saft getrunken würde. Dann wäre das aber kein Wein. Eventuell könnte man es noch als „natürlich“ bezeichnen, wenn die Gärung abgewartet wird, um alkoholhaltigen Saft zu erhalten.
Trinken würde diese Brühe heute aber wohl niemand mehr.
Heute wird bei der Produktion das gesamte Register lebensmitteltechnischer Kunstfertigkeit gezogen: Da wird im Stahltank vergoren, unter Schutzgas, um den Sauerstoffkontakt des Mostes zu minimieren. Da wird mit verschiedensten Mitteln entschleimt, geschönt, stabilisiert, gefiltert …..
Überhaupt: die Gärung.
Dieser faszinierende Prozess der Umwandlung des Zuckers in Alkohol wird bekanntlich durch Hefezellen erledigt – sofern die Hefen geeignete Umstände vorfinden. Diese Umweltbedingungen schließen ein, dass die Temperatur des Mostes stimmt, die Umgebungstemperatur stimmt, der Zuckergehalt stimmt, die Anzahl der Hefezellen ausreichend ist, genügend Zeit vorhanden ist und vieles mehr.
Nicht ganz vergessen werden sollte, dass im Prozess der Gärung neben den erwünschten Effekten auch unerwünschte Ergebnisse erzielt werden können: man spricht dann von Gärfehlern.
In jedem Weinberg gibt es Hefezellen, die sich an den Traubenschalen ansiedeln und diese Hefen können dann, wenn alles gut geht, auch zur Vergärung des Mostes zu Wein herangezogen werden. In diesem Fall spricht der Esoteriker von heute von Spontanvergärung (die allen anderen Verfahren „natürlich“ vorzuziehen sei).
Nicht immer allerdings ist das Ergebnis von der Qualität, wie sich der Erzeuger, und auch der Konsument, dies vorstellt. Schließlich haben die Hefen die unangenehme Eigenschaft, unter Umständen auch eine Reihe von unerwünschten und sensorisch sehr störenden Nebenprodukten hervorzubringen. Insbesondere dann, wenn die Umweltbedingungen für die Hefen mal nicht so sind, wie sie das benötigen.
Oder aber auch, wenn diese Hefezellen selbst nicht so sind, dass sie während der Gärung nur die erwünschten Effekte erzielen, sondern eben auch einige Unerwünschte bewirken.
Was aber ist passiert?
Irgendein findiger Kopf kam mal auf die Idee, Hefezellen, die sich bewährt hatten, zu bewahren und weiter zu vermehren.
Die Idee ist bestechend: Man hat einen Stamm an Hefezellen, die sich bereits als sehr gut geeignet erwiesen hatten. Warum nicht im nächsten Jahrgang auf die risikoreicheren „natürlichen“ Hefen verzichten und lieber die bewährten Hefestämme einsetzen?
Zum einen ist dies nicht ganz so leicht wie es sich hier liest: Man kann den wilden Hefezellen ja nicht sagen, dass sie nicht gären sollen. Also muss man diese wilden Hefezellen irgendwie aus dem Most rauskriegen, bevor man die erwünschten Hefezellen zusetzt. Hierzu gibt es verschiedene Methoden, die durch die Bank alle auch einen schwerwiegenden, technischen Eingriff bedeuten.
Aber ein weiterer Schritt in eine durch und durch technische Bearbeitung ist getan: die Verwendung von sogenannten Reinzuchthefen.
Bereits hier schreien genügend Dogmatiker „Alarm!“. Für sie ist die Verwendung von Reinzuchthefen bereits ein Zeichen des Bösen schlechthin. Und das ist ein Schmarrn!
Eine kontrollierbare Gärung, einen in Bezug auf die Vergärung des Mostes kalkulierbaren Verlauf, benötigt der Winzer ebenso, wie sich der Konsument wünscht, dass ein bestimmter Wein ein bestimmtes Geschmacksprofil aufweisen sollte.
Kein Winzer, keine Genossenschaft dieser Welt kann es sich heutzutage noch leisten, irgendwie die Trauben zu ernten, in einen Bottich zu schmeißen und ein paar Monate später nachzugucken, was daraus geworden ist. Wenn das Endergebnis dann mal leider wieder nur ungenießbare Brühe ist, eben Pech gehabt und wir freuen uns aufs nächste Jahr.
Also kontrolliert man den Gärverlauf nach allen Regeln der Kunst: temperaturgesteuert, mal kaltvergoren, mal maischeerhitzt, mal was-weiss-ich-sonst-noch-alles.
Das Ergebnis ist beeindruckend: Noch nie gab es soviel guten Wein wie heute. Und noch nie war der technische Aufwand zur Produktion desselben höher.
Nach der Gärung geht es doch munter weiter: Klärung des Weines, gegebenfalls Schönung mit allen erdenklichen Zutaten, Stabilisierung, Weinsteinausfällung und so weiter. Bis hin zu der Pasteurisierung bei bestimmten Produkten.
Unbestritten ist, dass es auch Entwicklungen geben mag, über die man durchaus geteilter Meinung sein kann. Lassen Sie mich zwei herausgreifen: Die Mostkonzentration und die Verwendung von Eichenholzchips zur Aromatisierung.
Unter Mostkonzentration versteht man Verfahren, die dem Traubenmost einen bestimmten Anteil an Wasser entziehen und somit die anderen Bestandteile des Mostes aufkonzentrieren.
Zwei Formen der Konzentration kommen ja auch in der freien Natur vor: der Botrytispilz und der Winter.
Der Botrytispilz ist in der Frühphase des Rebenwachstums ein gefürchteter Schädling, in der Spätphase der Reife jedoch ein durchaus erwünschter Helfer. Botrytis durchbohrt die Traubenschalen und entzieht den Beeren Wasser. Dadurch werden die anderen geschmacksrelevanten Bestandteile in höherer Konzentration in der Beere angereichert. Nur am Rande sei erwähnt, dass von Botrytis befallene Trauben alles andere als schön aussehen und es kaum vorstellbar ist, dass aus diesen grauschimmelig, eingeschrumpelten Dingern noch wunderbare Weine entstehen können.
Werden aus Trauben mit Botrytisbefall Weine gekeltert, so haben diese in der Regel sehr hohe Zucker-, Extrakt- und Säurewerte. Trockenbeerenauslesen sind zumeist aus Trauben mit Botrytisbefall. Auch haben solche Weine in ihrem Aromenspektrum einen deutlich wahrnehmbaren Botrytiston, ohne dass dies, obwohl eigentlich ein Fehler, als fehlerhaft moniert wird. Ganz im Gegenteil: das wird sogar erwartet!
Im Winter ist es kalt. Diesen Umstand macht man sich insofern zu nutze, als bei Minusgraden das Wasser gefriert. Auch das Wasser in den Beeren.
Erntet man nun bei sehr knackigem Frost die Trauben, ist das Wasser in den Beeren gefroren. Bei der Pressung erhält man also sehr wenig Wasser im Most, aber viel Extrakt, viel gelösten Fruchtzucker und viel Säure. Das ganze gibt dann einen Eiswein und wenn dieser auch noch aus Riesling ist, fällt jeder Dogmatiker in ekstatische Zuckungen.
Diese Form der Mostkonzentration hat nun ihre technische Entsprechung in der sogenannten Kyroextraktion. Dabei werden gesund gelesene Trauben gefroren und dann weiterverarbeitet wie oben beschrieben. Was zum Teufel soll daran schlimm sein? Dass die Trauben zum optimalen Zeitpunkt gelesen werden können? Dass der Winzer nicht mehr von den Zufälligkeiten des Wetters abhängig ist? Dass den Dogmatikern die Romatik fehlt, die Vorstellung, dass da irgendwelche armen Hunde bei – 15 ° Celsius durch den Weinberg gerobbt sind um ein paar verschrumpelte Weintrauben abzuschneiden?
Die Kyroextraktion ist mit Sicherheit das Verfahren, das den „natürlichen“ Prozess am genauesten abbildet.
Die beiden anderen Verfahren heißen Umkehrosmose und Vakuumverdampfung.
Bei der Umkehrosmose macht man sich, mit erheblichem technischen Aufwand, die Eigenschaften des osmotischen Druckes zu nutze, bei der Vakuumverdampfung den Umstand, dass Wasser unter Niederdruck einen geringeren Siedepunkt hat.
Beiden Verfahren ist folgendes gemeinsam: Sie verändern das Geschmacksbild des daraus erzeugten Weines deutlich und sie können nur bei Mosten angewendet werden, die frei von allen Fehlern sind. Durch die Entziehung von Wasser werden nämlich nicht nur die erwünschten Komponenten aufkonzentriert, sondern ebenso jegliche Fehlnoten. Kurz gesagt: wer diese Verfahren anwenden möchte (aus welchen Gründen auch immer) muss vorher im Weinberg mit besonderer Sorgfalt gearbeitet haben – durch Mostkonzentration kann aus einem schlechten Ausgangsmaterial kein guter Wein gemacht werden.
Selbstverständlich werden die drei oben genannten Verfahren von den Puristen rundweg abgelehnt – das macht aber nichts, diese Leute lehnen Reinzuchthefen auch ab.
Dieses ganze esoterische Gequatsche um die „Natürlichkeit“ ist ein einziger Humbug! Wein war schon immer ein Kunstprodukt, ein Ergebnis menschlicher Kunstfertigkeit im Umgang mit Ressourcen. Das wird auch immer so bleiben.
Wenn Ihnen beim Thema „Wein“ gar jemand mit dem Begriff „Ethik“ daherkommt: schütten Sie ihm ein Glas Essig ins Gesicht!
Autor: Martin H. Geiger im Februar 2002
Dieser Beitrag stammt von meinem Freund Martin H. Geiger, der im Herbst 2009 leider viel zu früh verstorben ist. Martin veröffentlichte auf seiner Webseite viele interessante Beiträgen zu den Themen Wein und Gastronomie. Um die zeitlosen Beiträge zu erhalten, wurden sie von mir hierher umgezogen und wo nötig – ich hoffe ganz im Sinne von Martin – überarbeitet.